Another Cinderella Story

Es war einmal… (…) … und sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage. So oder so ähnlich fängt eine bestimmte Textsorte an, die bestimmt alle kennen werden. Märchen. Sie lassen sämtliche Leser, ob sie es wollen oder nicht, in eine fantastische und heile Welt abtauchen. Und genau das macht ein Märchen eigentlich doch aus- dieser einfache Kontrast zwischen guten und bösen Menschen, Weiss und Schwarz, hell und dunkel. Sie stellen eine heile, gerechte Welt dar, wie wir sie uns immer wünschen, denn in unserer Welt gibt es diese Einfachheit, diese Märchenwelt halt nicht. Zwischen Gut und Böse zu unterscheiden ist etwas vom Schwierigsten, das wir kennen, denn wahrscheinlich gibt es diese Trennung gar nicht. Es existieren nur verschiedene Grauabstufungen, die mal dunkler, mal heller wirken.  Man kann keine Personen in eine gute oder eine böse Schublade einordnen, weil sie sich mit dem Leben ständig verändern. Ganz im Gegensatz zu den Figuren in Märchen, nehmen wir zum Beispiel Aschenputtel. Dort gibt es ganz klar drei Sorten von Menschen: Die Guten: Aschenputtel, und der Prinz. Die Schlechten: die Stiefschwestern und deren Mutter. Schliesslich alle übrigen Menschen die in dieser Zeit gelebt haben.
Jetzt seien wir mal ehrlich: Diese Aufteilung ist doch total unrealistisch. Keine Person kann von Natur aus nur böse oder nett sein. Das wäre doch langweilig, immer die gleichen Menschen, man kann die Geschichte ja fast erraten, indem man die Aufteilung der Protagonisten überflogen hat. Das entspricht nicht dem wahren Leben. Und müsste ein Märchen nicht eigentlich wahre Zustände abbilden, damit die Leser etwas davon lernen, und sich wirklich in die Geschichte hineinversetzen können? Tja, wie müsste dann ein modernes Märchen aussehen? Ich wage mal einen Versuch, mit einer neuen Version von Aschenputtel:
Nehmen wir an, der Prinz ist, genau wie im originalen Märchen, wohl etwas einfältig, leicht zu begeistern, im Grunde seines Wesens sehr unsicher, möchte aber unbedingt eine Frau finden, mit der er die Welt bereisen kann. Oder vielleicht doch nicht? Eigentlich weiss er nicht wirklich was er möchte.
Nehmen wir an, Aschenputtel hat nur eine Stiefschwester, aber sie ist eigentlich ganz annehmbar, nicht minder hübsch, und auch nicht weniger nett als Aschenputtel. Tatsächlich sind sie sich sehr ähnlich. Sie mögen die gleichen Dinge, und tragen die gleichen Schuhe in der gleichen Grösse. Vielleicht wohnen sie sogar zusammen in einer WG.
Dann lernt der Prinz die Stiefschwester im Ausgang kennen, sie verstehen sich super, aber sie verliert einen ihrer Schuhe. Er möchte sie unbedingt besser kennenlernen, er ist von ihr fasziniert, und bringt ihr den Schuh zurück. Sie soll ihn anprobieren, aber er passt plötzlich nicht mehr. Warum? Hallux Valgus? Hühneraugen? Niemand weiss es, weder die Stiefschwester noch der Prinz selbst. Pech gehabt! Er geht wieder, und beachtet sie von diesem Tag an nicht mehr, denn der Schuh passt ja nicht- somit ist sie nicht die richtige Frau für ihn.
Nach einer Weile aber lernt er Aschenputtel kennen, und wundersamerweise sitzt derselbe Schuh jetzt plötzlich wie angegossen. Sie kommen zusammen, wollen heiraten, alle freuen sich mit ihnen, und es wird in der ganzen Stadt darüber geredet. Alles könnte jetzt Friede Freude Eierkuchen sein- aber sowohl in klassischen wie auch in modernen Märchen werden bedeutungslos gewordene Figuren gerne beiseitegelassen. So auch die Stiefschwester. Man könnte jetzt sagen, "tja, vielleicht geschieht es ihr recht, sie muss sich halt damit abfinden, dass der Schuh Aschenputtel besser passt als ihr. So ist das Leben." Aber niemand, weder der Prinz, noch Aschenputtel oder alle übrigen Stadtbewohner, interessieren sich dafür, was die Stiefschwester denkt. Vielleicht hat sie den Prinz ja geliebt? Vielleicht macht es ihr etwas aus, dass sie ihrer Nachfolgerin dabei zuschauen muss, wie sie mit dem Prinzen glücklich wird? Aber niemand schenkt ihr Aufmerksamkeit, warum auch? Sie spielt bei der eigentlichen Liebesgeschichte keine Rolle. Sie würde nur beachtet werden, wenn sie sich wie Heathcliff in Sturmhöhe verhalten würde: Wenn sie rachsüchtig alle grausamen Register ziehen, und in die Trauung rennen und Amok laufen würde. Um dabei sich selbst, den Prinzen und Aschenputtel ins Grab zu bringen. Und enden würde die Geschichte dann mit dem Satz: ".. nun lebten sie alle friedlich unter der Erde."
 Aber nein, wir befinden uns ja nicht im Roman Sturmhöhe, sondern im Märchen mit dem Titel:  "Aschenputtel- neu verfasst".
Also, was tut die Stiefschwester? Gar nichts. Sie versucht ihr Leben weiterzuleben, als ob nichts geschehen wäre. Und hofft dabei auf klitzekleine Schuldgefühle, die den Prinzen und Aschenputtel erfassen, wenn sie zusammen auf dem weissen Pferd davonreiten.

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