Über meinen Schatten

Grüne Streifen strichen im Eiltempo an der Glasscheibe vorbei. Ab und zu manifestierten sich Windräder, Windmühlen, Häuser und Strassen. Manchmal strich ein Sonnenstrahl über mein Gesicht. Von der hinteren Sitzreihe klang das aufgeregte Schnattern eines Kindes durch, neben mir hörte ich das regelmässige Atmen eines Schläfers. In meiner Brust und Magengegend fühlte ich ein ziehen, ein schwacher Abklatsch eines verblassten Gefühls, das ich schon einmal gefühlt habe: Liebeskummer. Nur diesmal breitete sich das Gefühl nicht aus, weil ich einen geliebten Menschen verliess, sondern weil ich eine geliebte Zeit und die dazu passenden Orte verliess. Man könnte es auch Fernweh nennen. 

Ich weiss, jeder zweite der ein Instagram Profil besitzt, beschreibt sich selbst als „Traveller“, „World Explorer“ oder als jemanden den das Fernweh plagt. Attribute, welche in unserer heutigen Gesellschaft als selbstverständlich gelten, damit man nicht als Stubenhocker verurteilt wird. Aber ich glaube, die wenigsten meinen es tatsächlich ernst. Ich glaube, dass die meisten solche Dinge vor allem mit Ferien assoziieren. Ich assoziiere solche Dinge nicht nur damit, die Grenzen seines Heimatlandes zu verlassen für eine festgelegte Dauer, sondern damit, mich selbst zu überwinden und ganz klar bei mir selbst zu sein. Vor jeder Reise packt mich die Angst vor dem Ungewissen, am liebsten würde ich alles abblasen und mich ins Bett verkriechen. Trotzdem gibt es diese unbändige innere Stimme, die mich ermahnt, dass nichts mehr ungeschehen gemacht werden kann. Auch keine Buchung. Das zieht sich meistens fort bis nach der ersten Nacht am neuen Ort. Davor versuche ich möglichst wenig in Kontakt zu kommen mit fremden Dingen, linse nur aus einem kleinen Spalt meines Schneckenhäuschens zu den Attraktionen und fremden Menschen. So auch bei dieser Reise. Mit einem kleinen Anflug von Heimweh beschloss ich Postkarten zu kaufen und eine davon an mein zukünftiges Selbst zu schreiben. Darin forderte ich mich auf, die negativen Gedanken zu verscheuchen und mich immer meinen Herausforderungen und Schatten zu stellen. Mit dieser Aufforderung im Hinterkopf war das Heimweh wie weggewischt, ich tauchte ab in die fremden Kulturen meines Gastlandes. 

Als ich zuhause meine Postkarte las, kamen mir beinahe die Tränen. Ich hatte instinktiv den Satz aufgeschrieben, den mein Leben am passendsten beschrieb. Das Überwinden von Mustern, Ängsten und schlichtem Alltagstrott war bisher immer die grösste Herausforderung für mich. Lange brauchte ich, um dies zu verstehen. Doch Erfahrungen haben mir gezeigt, wie gut diese Überwindung tut und wie stark ich aus jeder einzelnen hervorgehe. Natürlich bringt so ein Vorgang nicht nur schöne Dinge mit sich. Manche Prozesse davon sind lang und können sowohl einem selbst als auch anderen Schmerzen zufügen. Aber auch sie sind notwendig, um sich auf lange Sicht genügend Freiheit und Entwicklung für die eigene Seele zu verschaffen. Um glücklich zu sein. Ich kann nicht für jeden sprechen, aber ich spreche für mich. Ich brauche Sprünge ins kalte Wasser, um mich daran erinnern zu können, wer ich bin. 

Mit den grünen Streifen vor dem Gesicht trauerte ich meiner ersten grossen Reise nach, die ich von A bis Z ganz alleine gemacht habe. An das Gefühl des kalten Atlantiks, der meine Füsse umspülte während ich nach gestreiften Muscheln Ausschau hielt und die salzige Brise in meinen Haaren wühlte. Ich erinnerte mich an Zugdurchsagen, Bahnhöfe, das Scannen der Metrokarte, Waffeln mit Karamell, Gerüche, die Augen der Menschen. Momente in denen ich mich glücklich und frei gefühlt habe, ganz nah bei mir selbst. Ich vermisste alles auf dem Nachhauseweg bereits so sehr, als ob es mehrere Tage her wäre. Und ich dankte meinem früheren selbst, als es in einem Café in Amsterdam sass und flüchtig jene bedeutenden Zeilen schrieb. Es wusste ganz genau was ich brauchte. 

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