Engelsflügel

Das letzte grosse Mysterium des Lebens. Der Tod. Fast wollte ich schreiben, das letzte grosse Mysterium des Menschen, als ich innehalte: Der Tod betrifft alles und alle. Was für eine egoistische Weltsicht wir Menschen doch haben. Ehe ich mich von Schamgefühlen überrollen lasse,  soll auch dieser Fehler bereinigt sein: Auch Tiere und Pflanzen sterben, selbst Gegenstände und Ideen können als tot bezeichnet werden. Der Mensch kam mir aber eigentlich vor allem deshalb in den Sinn, weil er das einzige Ding zu sein scheint, das Angst vor dem Tod hat. Also natürlich kann man das nie so genau wissen, ich gehe aber jetzt einfach davon aus. Weil ich ein egoistisches Wesen bin. 
Doch woher kommt eigentlich diese Angst? In unserem einfachen, vierdimensionalen Denken kommen wir nicht damit klar- obwohl in der vierten Dimension auch die Zeit eine Rolle spielt. Alle sind sich zwar darin einig, dass eine zweidimensionale Fläche aus Länge und Breite besteht. Aber alle umgehen die Tatsache, dass die Zeit irgendwann mal abgelaufen ist.  Irgendwie scheint sich niemand mit ganz einfachen Gesetzen abfinden zu wollen. Alles was Menschen tun, was Menschen vorantreibt, was sie zu erforschen suchen, dient dazu, den Tod auf eine Weise zu umgehen. Wer krank ist will geheilt werden, wer nach dem Sinn des Lebens sucht, möchte sich vom Tod ablenken, wer Kinder haben möchte, möchte neues Leben erschaffen, weil er nach seinem eigenen Ableben in irgendeiner Form weiterleben möchte. Das Leben scheint eine einzige Ausrede zu sein, weshalb man nicht sterben sollte. Stirbt jemand jung, heisst es immer: "Ja er hatte ja noch so viel vor sich! Das war viel zu früh!" Aber wer sagt, dass dies stimmt? Was hat man denn noch vor sich? Vielleicht hat man auch in jungen Jahren bereits seine Aufgabe erfüllt, seine Kapazitäten ausgeschöpft, die Menschen erreicht die es zu erreichen galt. Was bringt es da, noch ein ganzes Leben in sinnlosen Dingen herum zu dümpeln, die einen doch nicht glücklich machen. Warum sich dem Unbekannten nicht stellen, es hinter sich bringen, anstatt sich sein ganzes Leben lang davor zu verstecken? Trotz der grossen Angst scheint der Tod aber manchmal auch eine Faszination, oder gar Erleichterung auszulösen. Wie einfach wäre es, alles aufzugeben, sich loszulösen von allem Irdischen. Den hellen Weg aus dem dunklen Loch anzutreten.  Oder weniger prosaisch: Einen Punkt setzen, die Tür hinter sich abschliessen und sich auf den Weg machen, um den Sprung zu wagen. Vielleicht hält der Tod ja das Glück, den Ausweg bereit, die man sich immer erträumt hat!
 Der Weg nimmt seinen Lauf, alles läuft gut, wir setzen uns in Bewegung, rennen auf den Wendepunkt zu. 
Aber stopp: Da kommt die Angst zurück. Sie greift mit ihren Klauen in den Nacken und hält uns abrupt und mit rudernden Armen zurück. Macht uns bewusst, dass dies das letzte Mal ist, alles was man sieht hört, riecht, spürt... Und was dann- können wir die Welt endlich dann so schätzen wie sie ist? Werden wir uns unserer  Unwichtigkeit bewusst? Können wir uns in Demut üben?
Und wenn wir dann schliesslich springen: wo geht alles hin? Ist Schluss, sind wir wieder Teil der Dinge die nichts fühlen, die niemand wahrnimmt, die nicht existieren? Schweben wir als winziger Staubpartikel durch die Luft? Oder werden wir unter den weichen Flügeln eines Engels emporgetragen?

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