Bon Voyage




Alles fliegt mit Hochgeschwindigkeit an mir vorbei, verschwimmt, wird unscharf. Nichts existiert wirklich, alles scheint nicht greifbar zu sein. Die Gedanken versuchen mitzuhalten, mitzufliegen, doch es ist nicht möglich. Es ist, als ob man in einem Paralelluniversum sitzt, man sieht die echte Welt vorbeizischen, hat aber keine Chance in die echte Welt zurückzukehren. Eingesperrt in eine meterlange Röhre, zusammen mit einer Zufallsnation aus Menschen, welche das gleiche Schicksal teilen. Lösen wir das Rätsel auf: Nein, ich sitze nicht in einem Raumschiff einer ausserirdischen Macht, befinde mich nicht in einem Zeitloch, und stehe auch nicht unter Drogeneinfluss. Ich sitze im Zug. Zugfahren ist eine Sache für sich. Sobald man in einem Zug sitzt, zusammen mit wildfremden Menschen, scheint es, als ob dies eine andere Welt wäre. Alle sind in sich gekehrt, bemüht, ja keinen Kontakt zu knüpfen oder andere zu stören. ja es hat fast etwas meditatives. Meistens jedenfalls. Die Gedanken ziehen grosse, weite Kreise in Teile unseres Gehirns und  unserer Seele, zu welchen sie normalerweise nur schwer Zugang haben. Man beginnt sich plötzlich mit den Menschen um einen herum auseinanderzusetzen: Wer sitzt mir gegenüber? Was hat diese Person in den Zug geführt? Welche Pläne, welche Wünsche hegt sie? Was hat sie bereits in ihrem Leben erlebt? Und welchen Namen trägt sie? Mir jedenfalls geht es so. Ich bin keine Menschenkennerin, und auch keine Philanthropin. Alles, was mit Psychologie zu tun hat oder mit dem Menschen ist mir unheimlich, stösst mich ab.  Aber sobald ich im Zug sitze, fällt dies von mir ab. Vielleicht, weil trotz der Enge, den Gemeinsamkeiten mit dieser Nation genau dieses Zuges, an diesem Tag, um diese Zeit, eine gewisse Anonymität herrscht. Die Leute in einem Zug sind wie die Bewohner eines Staates, jeden Tag verändert sich die Bevölkerung, Leute sterben, werden geboren, alles ist einem ständigen Wandel unterzogen. So auch die Passagiere. Jeden Tag, ja jede Stunde, in jedem einzelnen Zug mischen sich die Leute neu, nie, in keinem Moment sind zwei Zustände gleich. Man kann sich hinter dem Deckmantel verstecken, dass man diese Personen nie wieder sieht, hinter der Sicherheit weder das Schicksal der Leute zu beeinflussen, noch selbst beeinflusst zu werden. Oder anders gesagt kann man Leute wie hinter einer Zeitung mit Löchern für die Augen ausspionieren, und seiner Fantasie freien Lauf lassen über deren Leben.  Ohne dass jemand den Finger hebt und einen der Spionage bezichtigt. Gut möglich dass sich jetzt jemand fragt, ob der Verfasser dieses Textes nicht ein wenig verrückt ist. Tatsache ist, dass ich mich dasselbe frage. Jedes mal, wenn der Zug langsamer wird, die Welt draussen wieder Konturen erhält und sich die Bevölkerungsstruktur des Zuges allmählich auflöst, scheint es, als ob ich wieder in die normale Welt eintauche. So, als ob ich gerade von einer weiten, weiten Reise zurückkommen würde… 

Kommentare

  1. Ich finde diese Gedanken faszinierend, obwohl ich selbst noch nie so gedacht habe!

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  2. Vielleicht holen sie dich ja jetzt bald auch ein... :)

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